Verein zur Beratung und Begleitung
älterer und verwirrter Menschen
und ihrer Angehörigen e.V.

Psychosoziale Beratung

MARGOT KLEIN
Verwirrte und psychisch kranke alte Menschen im Blick einer Beratungsstelle für ältere Menschen und Angehörige
Vor fünf Jahren wurde die Kontakt- und Beratungsstelle für ältere und kranke Menschen und ihre Angehörigen eingerichtet. Den Arbeitsschwerpunkt der Beratungsstelle bildet die psychosoziale Beratung. Aus der konkreten Arbeit mit älteren Menschen und mit Angehörigen schälte sich heraus, dass im Umgang mit verwirrten Menschen eine verhältnismäßig große Unsicherheit existiert, der sowohl Angehörige als auch Professionelle mehrheitlich hilflos gegenüberstehen und die bei den Beteiligten großen psychischen Druck mit entsprechend vielen Fehlern und Fehlhandlungen (z.B. Heimeinweisungen -die Mehrzahl der alten Menschen in den Kliniken werden mit der "Diagnose" Heim konfrontiert) produziert.
Auf diesem Hintergrund befassten sich die Mitarbeiterinnen zunehmend mit verwirrten Menschen und ihrer sozialen Umgebung und versuchten, auf der Basis beraterischen Fachwissens die Lage eines verwirrten Menschen zu verstehen. Davon ausgehend bemühten wir uns, sowohl allgemeine als auch individualisierte Konzeptionen für den konkreten Alltag zu entwickeln.
Im folgenden möchte ich Ihnen gerne zwei Beispiele vorstellen, die Ihnen unsere Arbeitsweise verdeutlichen:
1. ZUR SITUATION EINES ALLEINSTEHENDEN VERWIRRTEN MENSCHEN
Frau A. lebt seit mehreren Jahren alleine. Als sie die 90er Jahre erreicht, wird sie allmählich "auffällig". Sie spricht weniger mit ihren Nachbarinnen, wird gebrechlich und läuft im Sommer mit einem Pelzmantel spazieren. Als sie einmal auf offener Straße ihre Strümpfe verliert, informiert jemand das Gesundheitsamt, doch Frau A. wird zuhause nicht angetroffen. Stimmen in ihrem Wohnhaus äußern sich "Frau A. muss ins Heim - sie kann sich nicht mehr alleine versorgen. Die Beratungsstelle möchte das doch bitte veranlassen".
Die Beraterin wird von Frau A. freundlich-distanziert abgewiesen, bis sie einmal ein Stück Kuchen mitbringt und damit als Gast eingelassen wird. Frau A. erklärt, dass sie gut alleine zurechtkommt. Regelmäßige Besuche schließen sich an. Frau A. erkennt die Besucherin zunehmend besser und die Beraterin erkennt, dass Frau A. aufgrund ihrer schlechten Augen und ihrer Vergesslichkeit ihren Haushalt nicht mehr in Ordnung halten und sich nichts mehr kochen kann. Frau A. äußert klar, dass sie sich in ihrer Wohnung wohl fühlt und dort bleiben möchte. Von der Umgebung wird weiterhin zunehmende Besorgnis geäußert und die Untragbarkeit des Zustandes beklagt, vor allem, wenn Frau A. manchmal etwas hilflos auf dem Flur steht oder einmal etwas anbrennen lässt. Ein Sturz bewirkt, dass Frau A. vorübergehend bettlägerig wird und nun bereit ist, dass jemand zum Einkaufen und Kochen vorbeikommt. Die Helferin bleibt nach der Gesundung ebenso wie die Krankenschwester, die beim Baden hilft. Da Frau A. ihre Finanzen nicht mehr regeln kann, wird eine Betreuung beantragt. Frau A. wird bis zu ihrem Tode zuhause versorgt.
Immer wieder begegnen den Beraterinnen von vielen Seiten Skepsis und Fragen. Was steckt dahinter?
  • Verwirrte sind nicht nur selbst (zeitweise) verwirrt, sondern sie verwirren auch ihre Umgebung in starkem Maße.
  • Sie werden unverlässige Kommunikationspartner. Man kann oft kein richtiges Gespräch mehr mit ihnen führen.
  • Man kann nie sicher sein, was sie verstehen bzw. verstanden haben.
  • Man kann sich nicht darauf verlassen, dass sie tun, was man mit ihnen vereinbart oder was man ihnen anordnet.
  • Sie beginnen außerhalb von Normen und Regeln zu leben.
  • Sie werden oft unsauber - z.T. weil sie nicht mehr sauber sein können (schlechte Augen, Inkontinenz) oder weil ihnen Sauberkeit nichts mehr bedeutet und lösen damit Ekel aus.
  • Sie machen verrückte, unpassende Dinge:
  • Der Pelzmantel von Frau A. verlor sein Mystifikum, als sie auf die Frage, ob sie denn nicht schwitze, erklärte, das tue sie nicht. Eine Nachfrage der in dieser Sache unerfahrenen Beraterin bei einer Pelzfachfrau offenbarte, dass man unter einem Pelzmantel im Sommer tatsächlich nicht schwitze. Dies führte dazu, dass die Beraterin ihre Zweifel an Frau A.'s Gefühl und Verstand, die sie bezüglich dieses Punktes hatte, etwas beschämt beiseite räumte. Als Frau A. zudem irgendwann noch erzählte, dass sie Pelzverkäuferin gelernt hatte, löste sie damit ein weiteres sogenanntes Aha-Erlebnis aus.
  • Das ständige Vor-Augen-Führen des geistigen und körperlichen Abbaus und die Widerspiegelung einer möglichen eigenen unangenehmen Zukunft, in der die Ausgrenzung plötzlich die eigene Person treffen kann, werden durch verwirrte Menschen schmerzhaft aktualisiert Die häufigsten Aussprüche von Menschen bezüglich Verwirrter sind: "So möchte ich nicht werden. Da will ich lieber vorher sterben".
  • Verwirrtheit wird als Schande, als Makel, als Defizit erlebt.
  • Besonders die Hilflosigkeit von Frau A. wurde als schlimm empfunden - übrigens auch von Frau A_ selbst, die ja gerade versuchte, ihre Hilflosigkeit zu verbergen. Dem starken Bedürfnis von Frau A. nach Selbständigkeit wurde entsprochen, indem sie in möglichst viele Haushaltstätigkeiten gemäß ihrer Kräfte einbezogen wurde (z.B. kleine Pfannkuchen backen, bügeln).
  • Dagegen litt Frau A. in keinster Weise unter ihrem Alleinsein. Die Äußerung einer Pflegeperson, Frau A. sei einsam und in einer Einrichtung "doch unter Menschen" war wohl eher ein persönliches Bedürfnis nach Geselligkeit. In solchen Punkten ist sehr genau zwischen den tatsächlichen Bedürfhissen und Wünschen des Betreffenden sowie den Vorstellungen der Professionellen zu unterscheiden, damit diese nicht ihre Projektionen zum Schaden des Klienten unterbringen.
In der Arbeit mit und für verwirrte Menschen bewegen wir uns oft in diffusen Grenzbereichen, für die wir keine adäquaten Verhaltensweisen und Einstellungen entwickelt haben.. Gleichzeitig entstehen der Druck und der Anspruch, sofort zu handeln und Lösungen parat zu haben. Wichtigste Erfahrung in diesem Punkt ist, Gelassenheit und Ruhe zu bewahren, zu überlegen, zu planen und dann erst zu handeln.
2. ZUR SITUATION EINES ANGEHÖRIGEN EINES VERWIRRTEN MENSCHEN
Besonders bedrückenden Situationen sind die Angehörigen eines verwirrten Menschen ausgesetzt, befinden sie sich doch gewissermaßen in einer Sandwichposition, in der es ihnen einerseits der verwirrte Mensch schwermacht, mit ihm im Alltag zurechtzukommen. Und andererseits spüren und erfahren sie sehr häufig den sozialen Druck auf sich selbst (z.B. den Verwirrten nicht adäquat zu versorgen) sowie stellvertretend für den Verwirrten, der dem Unverständnis und der Ablehnung der Außenwelt ausgesetzt ist.
Frau M. kommt in die Beratungsstelle, weil ihr Vater zunehmend verwirrt und verwahrlost und sich allerhöchstens von ihr selbst helfen lassen will. Da sie berufstätig ist, kann sie diesen Anspruch nur teilweise erfüllen. Im Beratungsgespräch werden Hintergründe und Zusammenhänge hinsichtlich der Erlebniswelt eines verwirrten Menschen thematisiert. Diese erweiterte Sichtweise sowie ihre persönliche Zuneigung ermöglichen ihr, das abweichende Verhalten ihres Vaters nachzuvollziehen und partiell zu akzeptieren. Die psychische Belastung durch die Erwartungen und Äußerungen der Umgebung bleibt bestehen und kostet sie fast genau so viel Energie wie die tatsächliche Versorgung des Vaters.
Hier wäre eine Entlastung von Seiten des Umfeldes durch größere Toleranz und geringere Stigmatisierung äußerst hilfreich. In weiteren Gesprächen geht es einerseits um kleine dosierte Unterstützungsmöglichkeiten bei der Versorgung des Vaters und andererseits um eine beständige Stärkung der Klienten gegenüber der unreflektierten Normskala der Noch-Nicht-Verwirrten.
BERATUNGSGRUNDLAGEN
Sowohl in die Beratung von Angehörigen als auch in die biographische Begleitung oder Betreuung von verwirrten Menschen fließen folgende Grundsätze ein:
  1. Aus der Gesprächspsychotherapie:
    Inwieweit entwickle ich Vertrauen zu dem verwirrten Menschen und seinen Fähigkeiten? Inwieweit akzeptiere ich seine Verwirrtheit als Ausdruck seiner jetzigen Lebenssituation und seiner aktuellen Wünsche (z.B. dass Frau A. an dem ihr vertrauten Ort bleiben möchte)?
  2. Aus der Verhaltenstherapie:
    Inwieweit belasse ich sein Verhalten.? Verwirrte sind bereits mit der aktuellen Situation überfordert. Jegliche weitere Veränderung in Richtung einer (von außen vorgegebenen) Verhaltensmodifikation würde ihn noch mehr verwirren und blockieren. Ein verwirrter Mensch benötigt besonders intensiv Zeitkonstanz, räumliche Stabilität, personelle Kontinuität, Konstanz des Situationsablaufes.
  3. Aus der Psychoanalyse:
    Inwieweit erfasse ich die Be-Deutungen des Verwirrten? Seine Äußerungen sind nicht ein- oder zweifach wirr, sondern folgen in der Regel einer ihm gemäßen Art und haben "ihre" Geschichte, wie das Beispiel "Pelzmantel" zeigt. Ihre Erfassung ermöglicht häufig, den Willen, die Bedürfnisse und Ängste eines verwirrten Menschen zumindest ansatzweise zu erkennen und zu respektieren, was den beiderseitigen Umgang miteinander häufig auf erstaunliche Art vereinfachen kann.
  4. Vom systemischen Ansatz:
    Verwirrte sind Teil eines sozialen Systems, das durch ihre Verwirrtheit mehr oder minder stark aus seinen Fugen gerät und andere Akteure verunsichert (z.B. die Nachbarn von Frau A.). Wie geht das soziale Bezugssystem mit dem Verwirrten um (und umgekehrt)? Welche Wert- und Normvorstellungen spielen eine Rolle und behindern z.B. den Verwirrten, sich zu artikulieren und in seinem kleinen Alltag zurechtzukommen?
Aus diesen Segmenten ergeben sich folgende Vorgehensweisen:
  1. Ansatz der kleinen Schritte
    Einstellen auf den Rhythmus des Verwirrten, z.B. erst dann jemanden als Helfer integrieren, wenn der Betreffende es einsehen und akzeptieren kann.
  2. Dosierte Unterstützung
    Erhalten der Selbständigkeit soweit wie möglich - also nur jene Arbeitsschritte übernehmen, die die Betreffende nicht mehr selbst durchführen kann. Diese erfordert eine genaue Kenntnis der Fähigkeiten der jeweiligen Person, die nur durch Beobachtung und Reflektion gewonnen werden kann.
  3. Beziehungsarbeit
    Hier handelt es sich um ein kontinuierliches, professionelles und reflektiertes Beziehungsangebot, damit ein Teilausgleich des verlorengegangenen Bezugssystems erfolgen kann. Mittels dieser Beziehungsarbeit wird dem verwirrten Menschen ermöglicht, einen festen Bezugspunkt wiederzugewinnen.
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